Eigentlich bezieht sich der an der Börse gängige Spruch, dass die letzte Meile immer am schwierigsten ist, auf die Inflationsbekämpfung. Aber wenn man sich den Chart des S&P 500 ansieht wirkt es, als sei das auch hier der Fall. Doch so passend der Spruch an der Börse aktuell auch wirkt: Er trifft nicht zu. Wenn es jetzt eng wird, dann nicht, weil man sich gerade an irgendein Ziel herankämpfen würde.
Mit der Inflation ist es ähnlich wie mit einer hartnäckigen Erkältung: Die Besserung tritt zwar relativ schnell ein, wenn man etwas dagegen tut. Aber so ganz weg ist eine Erkältung eben nicht so schnell. Und passt man da nicht auf, wird man zu schnell unachtsam, dann kassiert man einen Rückschlag. In der Regel, gerade beim Thema Inflation, weil die Ursachen nicht behoben, sondern nur die Symptome bekämpft wurden.
Am Aktienmarkt kommt so etwas zwar auch vor, wenn es um die Rahmenbedingungen geht … denken wir an die Eurokrise, die einem viel später doch noch auf die Füße fiel, weil man ein Problem, das strukturell ist, mit „billigem Geld“ zwar unter den Teppich kehren, aber nicht lösen kann. Was übrigens China in Bezug auf seinen Immobilienmarkt auch blühen könnte. Aber diese Rahmenbedingungen spiegeln sich eben nicht allzu oft 1:1 in den Kursen wider.
Was richtig und wichtig ist, liegt immer im Auge des Betrachters
An den Börsen geht es vor allem um subjektive Wahrnehmungen der Marktteilnehmer, die in Käufe oder Verkäufe einmünden. Ob etwas negativ oder positiv, irrelevant oder wichtig ist, zeigt sich darin, wie die Mehrzahl der Akteure die Fakten auslegen … oder ob sie diese überhaupt zur Kenntnis nehmen.
Und die daraus resultierenden Trends nähren sich (vor allem, wenn es nach oben geht) oft aus sich selbst heraus, weil die emotional urteilenden Anleger steigende Kurse nicht als das sehen, was sie sind (das Ergebnis des eigenen Tuns) sondern als Beweis dafür, dass sie das Richtige tun. Wenn der S&P 500 seit zwei Wochen unweit des bisherigen Rekordhochs (6.147 Punkte) auf der Stelle tritt, dann nicht, weil noch ein paar negative Aspekte vom Tisch müssten, damit der Weg nach oben frei wird. Sondern weil Käufer und Verkäufer aktuell in etwa gleich stark sind. Was mit den Rahmenbedingungen zu tun haben kann, aber, weil es hier eben um subjektive Wahrnehmungen geht, nie muss. Also?

Also kommt man mit der objektiven Bewertung von Fakten, die vor ihrer Wirkung auf die Aktienkurse durch den menschlichen Emotions-Filter laufen, nicht wirklich weiter, wenn es um die Frage geht, ob wir gerade das Ende der Rallye-Fahnenstange oder nur eine Pause vor einem Ausbruch auf neue Hochs sehen. Was man schon daraus folgern könnte, dass die Rahmenbedingungen alles andere als bullisch sind, so dass sich die Frage aufdrängen würde, was eigentlich als Fundament dafür dient, dass der marktbreite US-Index den vorherigen Abverkauf zum größten Teil aufgeholt hat.
Unsicherheit ist Gift für die Aktienmärkte. Es sei denn …
Die US-Politik ist völlig unberechenbar und derzeit eine Ein-Mann-Show. Und der da auf der Bühne steht, scheint höchst wankelmütig und bisweilen aus Launen heraus Entscheidungen zu treffen, die nicht nur für die USA, sondern für die Weltwirtschaft erhebliche Konsequenzen haben.
Erst kommt die EU mit unter den Mantel des 90-Tage-Aufschubs, dann werden auf einmal 50 Prozent Zoll ab einem Termin acht Tage nach der Entscheidung angedroht, zwei Tage später aber wieder zurückgenommen.
Dasselbe Spiel mit China. Erst wird Mitte Mai entschieden, die Steuersätze deutlich zu senken, dann aber erklärte der US-Präsident, ohne Details und (bislang) Konsequenzen zu nennen, China habe Vereinbarungen, die bei den ersten Gesprächen getroffen wurden, erheblich verletzt.
Dazu das Trump’sche Steuergesetz, bei dem man nicht weiß, wann es mit welchen Änderungen durch den Senat geht, was Trump dann wiederum anders haben will etc. Aber von dem man auf jeden Fall weiß, dass Trumps Rechnung, mit weniger Steuern über mehr Wachstum das Staatsdefizit zu verringern, nicht aufgehen wird.

Rational gesehen müsste der S&P 500 nicht knapp unter dem bisherigen Allzeithoch notieren, sondern deutlich tiefer, denn ein solches Umfeld der Unsicherheit ist normalerweise für den Aktienmarkt pures Gift. Tut er aber nicht. Also kommt man mit der Frage, was fehlt, um diese „letzte Meile“ bis an das Rekordhoch zurückzulegen, nicht weiter, wenn man rational vorgeht.
Ganz einfach, weil sehr viele Marktteilnehmer eben nicht rational, sondern emotional agieren, indem sie diese Faktoren entweder ignorieren … was besonders dann oft passiert, wenn die Dimension der Probleme nicht mehr überschaubar ist, im Stil der „Vogel-Strauß-Methode“ … oder sich ein zwar irrationales, aber tröstlich positives Bild der kommenden Entwicklung zeichnen. Aber wenn die Fakten nicht greifen … was bleibt?
Die Charts sind immer „unbestechlich“
Es bleiben Chart- und Markttechnik. Denn auch, wenn die meisten Privatanleger, die oft auch passiv über Fonds und ETFs investieren und einfach jeden Monat die gleiche Summe einzahlen, damit nichts am Hut haben: Große Adressen schon. Hedgefonds ebenso. Und technisch orientierte Trader und Handelsprogramme.
Diese Klientel ist groß genug, um etwas zu bewegen, in beide Richtungen. Und sie agiert anhand von Aspekten, die wir ebenfalls sehen und einordnen können. Also: Pfeifen wir auf den müßigen Versuch, zahllosen Anlegern in die Köpfe sehen zu wollen, die selbst nicht wirklich wissen, was sie da tun und gehen konsequent charttechnisch vor. Was hat der S&P 500 dahingehend zu bieten?
Noch haben die Bullen eindeutig das bessere Blatt in Händen
Eine Gemengelage, in der sich die Bullen vorerst ziemlich sicher fühlen dürften. Im langfristigen Chart auf Monatsbasis sehen wir den 2020 etablierten Aufwärtstrendkanal, dessen untere Begrenzung mit der 1.000-Tage-Linie und dem 2022er-Hoch einen massiven Kreuzsupport bildet, der im April getestet und perfekt verteidigt wurde. Damit wäre grundsätzlich Luft ans obere Ende des Kanals, das jetzt, im Juni, um 6.500 Punkte liegt.

Der ganz oben bereits ohne detaillierte Trendlinien und gleitende Durchschnitte abgebildete Chart auf Tagesbasis, der unten folgend die aktuell relevanten Chartmarken mit beinhaltet, zeigt zwar, dass der Index momentan Wasser tritt. Aber noch hält er die steile April-Aufwärtstrendlinie, zudem wurde Anfang letzter Woche die 200-Tage-Linie getestet und gehalten. Würden diese beiden Unterstützungen mit Schlusskursen unter 5.765 Punkten brechen, wäre zwar ein kleines Doppeltopp vollendet, das dem bullischen Lager Magengrimmen verursachen dürfte. Aber die werden sich, zumindest aus aktueller Sicht, vermutlich darauf verlassen, dass die vielen, bis 5.390 Punkte hinunter reichenden Unterstützungslinien den Index schon auffangen werden.
Wo das Bären-Territorium beginnt, ist recht klar erkennbar
Aber spätestens, wenn die 200-Tage-Linie bricht, dieses Doppeltopp dadurch real wird und die Käufer dann nicht sofort aktiv werden, kommen wir zurück zum emotionalen Aspekt.
Denn wenn der Schwung der Aufwärtsbewegung erst einmal dahin wäre, könnten all die oben genannten, bärischen Faktoren, die man so problemlos ignorieren kann, solange die Kurse steigen, umgehend ins Bewusstsein vieler zurückkehren. Und das sind viele Faktoren, nicht alleine die obengenannten. Dann könnte, wer heute noch sicher ist, in Rücksetzer wie immer blind zu kaufen, zurückziehen. Dann könnte es anders laufen als gedacht. Könnte!
Aber sicher ist man eben nie. Denn wie sich die Relation von gelassen die Hand aufhaltenden Marktteilnehmern und denen, die umgehend aussteigen, wirklich darstellen würde … wer wollte das ernsthaft vorher absehen können? Und genau deswegen ist es der bessere Weg, sich an den Fakten in Form der Kurse selbst zu orientieren statt an einem „müsste eigentlich“. Was konkret hieße:

Solange der S&P 500 diese Unterstützungszone aus 200-Tage-Linie, 20-Tage-Linie, April-Aufwärtstrend und dem Zwischenhoch von Ende März im Bereich 5.767 zu 5.870 Punkte hält, steht man auf der Short-Seite auf dünnem Eis. Sollte diese Zone aber fallen, wäre es wiederum höchst riskant, stur Long zu bleiben. Dann sollte man abwarten, ob sich die negativen Begleitumstände durchsetzen oder nicht, sprich erst einmal neutral bleiben oder, als Trader, step by step entlang des kurzfristigen Trends Short-Positionen aufbauen und absichern. In dieser von so vielen möglichen Unterstützungen massiv durchsetzten Zone zwischen 5.390 und 5.870 ist alles möglich, aber nichts effektiv entschieden. Fiele der S&P 500 jedoch nach unten hinaus, dann wäre die Sache wieder klar und die Bullen geschlagen. Aber erst dann.
sell in may and go away … noch ist offen, ob das diesmal eine gute Idee gewesen wäre
Doch an der „letzten Meile“ wäre der S&P 500 dann nicht gescheitert, sondern an der zu großen Selbstsicherheit vieler Marktteilnehmer, gepaart mit der Ignoranz gegenüber dem, was außerhalb des Börsensaals passiert. Kommt es so, kippt diese Hausse, die aus reiner Trendfolge und subjektiven Wahrnehmungen besteht?
Fragen Sie mich nicht, das frage ich mich ja nicht einmal selber. Denn genau da wären wir dann ja wieder bei subjektiven Beurteilungen bzw. der Kaffeesatzleserei, die in einem Umfeld, in dem die nicht nur bei Mr. Trump, sondern bei jedem Anleger genauso unvorhersehbaren Emotionen den Taktstock schwingen, völliger Unfug sind. Donald Trump hat ja bereits Übung darin, die Anleger mit permanenten Ankündigungen großer Entscheidungen und Fortschritten bei der Stange zu halten, denken wir nur an den jahrelangen Handelsstreit mit China in seiner ersten Amtszeit, in dem er verblüffend lange nichts als viel verkaufte. Aber ob ihm genug Marktteilnehmer erneut auf den Leim gehen oder nicht? Niemand könnte das sicher vorhersagen. Warten wir es also ab, die Charts werden uns zeigen, ob der alte Spruch „sell in may and go away“ in diesem Jahr funktioniert oder nicht!
Ich wünsche Ihnen eine erfolgreiche Börsenwoche!
Ihr
Ronald Gehrt
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