Erst Panik, dann Rückkäufe und kurz darauf wieder eitel Sonnenschein am Aktienmarkt: 2020 lief es so. Eine V-Formation hatte sich damals gebildet. Gut drei Monate nach dem Corona-Crash war der Großteil der Verluste aufgeholt, kein Jahr später waren neue Rekorde erreicht. Diesmal, so hoffen viele, wird es genauso laufen. Aber die Rahmenbedingungen sind jetzt andere. Und man vergisst zudem gerne: Nicht jeder Versuch einer V-Formation endet erfolgreich.
Dass man aktuell seitens der Käufer auf eine V-Formation setzt, ist zwar einerseits nicht überraschend, weil man noch gut in Erinnerung hat, dass genau das 2020 passiert war und damals diejenigen, die einfach in einen Crash hinein gekauft hatten oder mit vollem Depot gar nicht reagierten, heil bzw. mit gutem Gewinn aus der Sache herauskamen. Andererseits sind solche Formationen keineswegs üblich, blickt man auf die Historie der Märkte, sind sie deutlich seltener als die Klassiker unter den Trendwendeformationen wie Doppel- und Dreifachtiefs oder umgekehrte Schulter-Kopf-Schulter-Formationen. Und ihre Seltenheit begründet sich in den für ein „schnell runter, schnell rauf“ nötigen Szenarien. Zwei Szenarien wären dafür denkbar.
Wie eine V-Formation entstehen kann
Dabei muss man mit dem Abwärtsimpuls als Basis einer möglichen V-Formation anfangen. Normalerweise laufen Abwärtsbewegungen eher kontrolliert und in Wellen ab. Die Gemengelage und/oder der Ausblick trüben sich ein, die Anleger werden unruhig. Die Zahl der Käufer nimmt ab, die der Verkäufer zu, die Kurse rutschen ab. Für eine V-Formation bedarf es aber eines ziemlich drastischen und weitreichenden Abverkaufs als Basis.
So etwas kann dann entstehen, wenn entweder sehr dramatische Ereignisse unverhofft auftauchen oder wenn zu viele Marktteilnehmer eine Verschlechterung der Gemengelage zu lange bewusst ignoriert haben, so dass es zu einer Art „Deichbruch“ kommt, wenn die ersten erst einmal anfangen, auszusteigen. 2020 war es der drastische Impact durch Corona, 2022 der Angriff auf die Ukraine, was diese massive Veränderung der Lage ausgelöst hatte. Der folgende Chart zeigt diese beiden Fälle ebenso wie die aktuelle Situation.

Übrigens ordne ich die Bewegungen im Herbst 2020 und im Herbst 2022 nicht als V-Formationen ein, wenn, dann sind das Miniaturausgaben einer solchen Wende, weil es zuvor nicht stark und weit genug abwärts ging. Aber sie haben durchaus Ähnlichkeiten von der Sache her:
Man war im Vorfeld sehr negativ, dann aber änderte sich das Bild seitens der Lage bzw. seitens dessen, was die Trader erwarteten. Im Herbst 2020 resignierte man beim Warten auf Impfstoffe, aber dann drehte der Markt auf dem Absatz, als die ersten Corona-Impfstoffe als „fertig“ gemeldet und die US-Wahl zu einem Sieg der Demokraten führte. Im Herbst 2022 setzte man sehr frühzeitig darauf, dass die Inflation in den Griff bekommen wird und bekam am Ende auch Recht damit.
Aber zurück zu den beiden großen V-Formationen, bei denen die erste 2020 gelang … die zweite 2022 am Ende aber scheiterte und der DAX, den wir hier als Beispiel nehmen, erst hängenblieb und dann in den folgenden Monaten unter das Tief vom Jahresbeginn fiel. Was entscheidend ist, ob eine solche Formation gelingt oder nicht, ist der Grund, wieso die Kurse auf einmal schlagartig wieder nach oben sausen. Sehen wir uns diese Fälle an:
Warum „funktionierte“ die V-Formation im Jahr 2020?
Die 2020er V-Formation gelang, weil aus Hoffnungen Fakten wurden. Am Anfang einer V-Formation stehen ja immer Gewinnmitnahmen der Short-Seller, sprich der Bären. Ob diese bei leer verkauften Aktien oder bei Short-Positionen im Future den Gewinn sichern wollen: In beiden Fällen müssen sie kaufen – entweder die zuvor leer verkauften Aktien oder den Future Long – um die Positionen zu schließen. Und das zieht die Kurse nach oben. Hier findet bereits die erste wichtige Weichenstellung statt:
Kaufen die Bären, weil sich die Lage zum Positiven gewandelt hat oder nur, weil der vorherige Selloff eine massive Übertreibung auf kurzfristiger Ebene war? Bei solchen kapitalen Kurseinbrüchen, die V-Formationen ausmachen, ist meist Letzteres der Fall. Was die Sache anfangs immer sehr wacklig macht, denn wenn sich die Gründe für die vorherigen Verkäufe nicht verringern, sich ggf. sogar intensivieren, kommen die Bären schnell wieder zurück.
Aber nach diesen Gewinnsicherungen der Bären kommen gemeinhin sofort andere Käufe. Käufe rein technisch ausgerichteter Trader und dann die Käufe derer, die hoffen, der Spuk wäre vorbei und man würde, wollte man abwarten, eine grandiose Chance verpassen. Letztere Käufe müssen dann aber auf der festen Erwartung basieren, dass sich die Lage wirklich wieder verbessert und/oder die Verkäufe zuvor trotz negativem Umfeld viel zu weit gegangen waren. 2020 klappte das.
Denn man setzte darauf, dass Corona und die dadurch verbundenen Lockdowns zwar einen harten Schnitt in der Weltwirtschaft bedeuten, dies aber alles ohne Folgeschäden wieder aufholbar sei. Und damit lag man grundsätzlich richtig. Wichtig war hier aber, und damit geht der Blick auf den Oktober des Jahres 2020, als es dann doch beinahe noch schief gegangen wäre, dass diese Hoffnungen in absehbarer Zeit auch Bestätigung finden.

Wenn die Meldung über Impfstoffe und der den Markt freuenden Ausgang der US-Wahl Anfang November 2020 nicht gerade noch rechtzeitig gekommen wären, hätte diese V-Formation am Ende auch scheitern können und hätte das vorherige Hoch nicht überboten! Der Index war bereits aus dem „Sockel“ … einer Seitwärtsrange, die dem rechten Schenkel des „V“ oft folgt und die Entscheidungszone bildet, ob die Formation wirklich nach oben vollendet wird oder scheitert … nach unten ausgebrochen. Impfstoffe und US-Wahl rissen das Ruder im letzten Moment herum.
Warum scheiterte der Versuch einer V-Formation 2022?
Die V-Formation Anfang 2022 scheiterte hingegen, weil sich die Hoffnungen, die die Trader zum Einstieg verleiteten, nicht erfüllten, sondern die Lage im Gegenteil sukzessiv kritischer wurde.

Zum einen konnte der Ukraine-Konflikt nicht zügig beigelegt werden und blieb ein über den Märkten hängendes, geopolitisches Damoklesschwert mit Relevanz für die Energieversorgung.
Zum anderen hatten sich Politik, Notenbanker und auch manche Volkswirte geirrt, als sie gebetsmühlenartig wiederholten, dass die seit Herbst 2021 deutlich anziehenden Preise als Folge der vorherigen Lockdown-Phasen nur ein kurzzeitiges Phänomen seien, das sich zeitnah von selbst erledigen werde. Im Gegenteil mussten die Anleger im weiteren Verlauf des Jahres 2022 sehen, dass die Inflation aus dem Ruder lief und die Notenbanken die Leitzinsen schnell und weit anhoben.
Auffällig dabei war, dass es der DAX bis an die Nackenlinienzone der vorherigen Toppformation geschafft hatte, bevor er nach unten abdrehte und sukzessiv neue Tiefs markierte.
Wir sehen: Es kommt entscheidend darauf an, ob die Argumente, die die Anleger, die nach den ersten Eindeckungen der Bären kaufen und damit aus einer normalen Gegenbewegung eine potenzielle Aufwärts-Trendwende in V-Form machen, sich als stichhaltig erweisen oder nicht. Wenn die da gespielten Karten nicht stechen, ist das Risiko, dass aus dem Ansatz eines „V“ am Ende doch keine Aufwärtswende wird, sondern die Abwärtsbewegung wieder einsetzt, immens hoch. Wie sieht es da heute aus, jetzt, da man erneut auf eine „V-Formation“ setzt?
Und heute? Hopp oder Topp?
Manche von Ihnen würden es vielleicht so lapidar formulieren, wie ich es jetzt tue: Gar nicht gut schaut es dahingehend aus. Denn die Faktoren, die den Selloff befeuert hatten, sind ja alle noch da:
Die Zölle bedrohen die Weltwirtschaft immens. Und die US-Politik wirkt derzeit planlos und mehr aus dem Bauch heraus, so dass man schlicht nicht absehen kann, wie sich die Lage in drei, sechs oder zwölf Monaten darstellen könnte, wirtschaftlich wie geopolitisch. Zumal: Sollte es zu für die USA zufriedenstellenden „Deals“ kommen, würden die Vorteile, die die US-Wirtschaft dadurch erlangt, ja auf Kosten der restlichen Länder und der dortigen Unternehmen errungen. Keine gute Basis für eine nachhaltige Aufwärtswende … aber!
Man darf auf keinen Fall ignorieren, dass eine sachliche, rationale Lagebetrachtung selten die Kurse führt. Es sind Emotionen. Zuerst, beim Kurseinbruch, Angst oder sogar Panik, danach Gier und/oder die Furcht, eine Super-Chance zu verpassen. Das ist es, was den meisten Akteuren die Hand führt.
Daher können auch irrational wirkende Argumente zu steigenden Kursen führen und eine Hausse generieren, die erst „abgeschossen“ wird, wenn die Faktenlage derart finster wird, dass wirklich auch die letzten Luftschlösser platzen. Dass der DAX, vor allem aber die US-Indizes, bereits so weit nach oben gelaufen sind, deutet zwar an, dass hier gerade eine ganze Menge Akteure die Realität gegen eine vom Wunsch nach Gewinnen rosa eingefärbte, subjektive Zukunft tauscht. Aber was fängt man mit dieser Erkenntnis an?

Letztlich ist, in emotional dominierten Phasen noch mehr als sonst, nie klar vorhersehbar, wie es weitergeht. Aber immer dann, wenn die Rallye und die rational wahrscheinlichere Entwicklung der Rahmenbedingungen nicht zusammenpassen, ist größte Vorsicht angesagt, wenn es um die Frage geht: Mitmachen oder wegbleiben? Zumal es diesmal noch einen anderen Aspekt gibt, der zur Vorsicht anhalten sollte:
Die Märkte waren zuvor so stark gestiegen, dass sie extrem teuer bewertet waren. Und über eines sollten die gerade einlaufenden Ergebnisse des ersten Quartals nicht hinwegtäuschen: Dass die großenteils gut ausfallen, hat nichts zu sagen, denn die ersten, heftigeren Zölle kamen erst im März, der große Rundumschlag Trumps erst Anfang April. Die Zahlen fallen sogar eher wegen der Zölle so gut aus, denn:
Die waren ja absehbar, daher wurde so viel wie möglich im Vorfeld in die USA verschifft und von den Verbrauchern in Erwartung der durch die Einfuhrzölle stark steigenden Preise vorgekauft. Was bedeutet: In der Folge fällt das Wachstum in ein Loch. Und das ist eines, aus dem man ohne wirklich taugliche und vor allem zeitige Lösungen so schnell nicht mehr herauskommen wird.
Die eigentliche Entscheidungszone kommt erst jetzt
Dabei gibt es einen Bereich in den Kursen, egal, welchen Index man da hernehmen wollte, den man als eine Art „Nagelprobe“ für die Solidität und Kraft einer denkbaren V-Formation hernehmen kann, nämlich genau den Punkt, über dem man ein solches „V“ als vollendet, die Wende als gelungen ansehen könnte. Und das hat auch auf logischer Ebene etwas für sich.
Die Charts zeigen: Die Nackenlinie der vorherigen Toppformation ist in der Regel eine entscheidende Hürde. Der Grund: Das ist der Punkt, wo der Kurseinbruch und damit der linke Schenkel des „V“ seinen Ursprung hatte. Würde man den Kurs, hier des DAX, über diesen Punkt ziehen, wäre man also auf einem Kurslevel, der implizieren würde, dass die Gründe, die den Selloff ausgelöst haben, komplett aufgekauft sind. Was dann nachvollziehbar wäre, wenn alles in der Tat wieder ist, wie zuvor … oder man wenigstens unterstellen dürfte, dass es sehr bald und ziemlich sicher so sein wird. Und das ist in unserem aktuellen Szenario nicht der Fall.

Donald Trump hat seine Amtszeit gerade erst begonnen, überschreitet diese Woche gerade mal die 100-Tage-Linie dieser. Man müsste darauf setzen, dass er sich umgehend deutlich anders verhalten wird und seine mehrheitlich untauglichen Minister schnell gegen fachkundige und pragmatisch agierende Leute austauscht. Nur so könnte man erwarten, dass der DAX über dieser Nackenlinie des Februar-/März-Topps trotz der sehr teuren Bewertung eine Chance hat, dauerhaft darüber zu bleiben und im Idealfall über das bisherige Hoch zu laufen. Das vorstehend gezeigte Beispiel des Dow Jones aus der Zeit der Baisse 2000-2003 zeigt: Kurzfristig kann eine Vollendung durchaus auch mal gelingen, aber damit sie dauerhaft ist, muss eben das Umfeld passen.
Können wir das erwarten? Hoffen kann man das immer, aber wenn man die Ratio „zuschaltet“, bröckelt eine solche Hoffnung doch ganz erheblich, daher meine ich: Vorsicht ist jetzt unbedingt angebracht!
Ich wünsche Ihnen eine erfolgreiche Börsenwoche!
Ihr
Ronald Gehrt
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