Wie heiß gelaufen ist der Aktienmarkt derzeit? Haben wir schon den Punkt erreicht, ab dem man diese Rekordjagd als eine hochexplosive „Milchmädchen-Hausse“ ansehen muss? Klären wir erst einmal, was das eigentlich sein soll und dann, wo wir da aus meiner Sicht stehen.
Also: Was soll das sein, eine „Milchmädchen-Hausse“? Als der Aktienmarkt (nicht nur in den USA, aber da ganz besonders) in den Jahren vor dem Crash 1929 und der nachfolgenden, jahrelangen Super-Baisse immer höher kochte, lag das vor allem daran, dass immer mehr Leute, die weder Erfahrung am Aktienmarkt noch den Hauch des nötigen Basiswissens hatten, auch ein Stück vom Kuchen abhaben wollten und extrem unvernünftig agierten.
Kredite für Aktienkäufe gab es überall, mit den Aktien selbst als Sicherheit. Aber zu horrenden Zinsen, weil die Kreditgeber wussten, dass die Aktien ein wackliges Unterpfand sind. Die Kreditnehmer hingegen sahen nur die rasant steigenden Kurse, pfiffen auf die Wucherzinsen und kauften wie wild. Dadurch waren auch viele einfache Leute, die eigentlich das Geld für Aktien nicht übrig hatten, auf einmal nicht nur Anleger, sie waren Spekulanten … meist indes ohne zu ahnen, wie groß die Risiken waren, die sie eingingen.
Der Name ist eher willkürlich, man hätte es auch „Schuhputzer-Hausse“ nennen können
Es hieß, man konnte in New York keine Meile mit dem Taxi fahren, ohne dass der Fahrer entweder Aktientipps haben wollte oder ungefragt welche von sich gab. Der Schuhputzer wusste über den Markt Bescheid, der Klempner, der Eismann oder eben die Mädchen in den Milchgeschäften. Zumindest dachten sie das.
Diese Spekulationswelle sorgte für immer weiter steigende, aber auch volatilere Märkte … und endete mit einem gigantischen Knall, wobei damals wie bei jedem anderen Abriss nicht absehbar war, wann genau und auf welchem Kursniveau das passieren würde. Nur dass es passieren musste, war den eher wenigen, die noch bei Sinnen waren, völlig klar. Am Ende verloren immens viele Menschen alles … und vor allem das führte dazu, dass es mit dem 1929er-Crash nicht getan war, sondern die Weltwirtschaftskrise folgte, die die Aktienmärkte bis 1934, als Roosevelt den „New Deal“ umsetzte, massiv drückte.
Dieser Spitzname kommt also aus der damaligen Zeit, wobei „Milchmädchen“ wohl einfach am besten klang, nehme ich an. Man könnte das Phänomen überbordender Gier und massiven Leichtsinns auch „Taxifahrer-Hausse“ oder „Schuhputzer-Hausse“ nennen. Der Name ist nicht der Punkt, was dahintersteht, ist entscheidend.
Es muss nicht alles genau wie damals sein … es geht vor allem um den Leichtsinn
Natürlich trug es entscheidend zur damaligen Katastrophe bei, dass es schon fast üblich war, auf Kredit zu spekulieren, aber es ging vor allem um den Leichtsinn an sich. Im Zuge des Internet-Wahns 1999/2000 lief das sehr, sehr ähnlich, während ich die Phase vor dem Crash 1987 und die vor dem Platzen der Subprime-Blase 2008 eher nicht als Milchmädchen-Hausse, sondern „nur“ als Phase überzogener Sorglosigkeit ansehen würde. Einen Run völlig unbedarfter Anleger gab es hingegen vor 1929, vor 2000 und … jetzt?
Wer behauptet, dass so etwas früher einmal denkbar war, aber doch heute nicht, möge sich erinnern: 2000 ist nicht lange genug her, um behaupten zu können, dass die Bestrafung zu großen Leichtsinns eine Sache früherer Zeiten sei. Davon abgesehen, dass es nie um das konkrete Umfeld geht. Es geht um das Verhalten der Marktteilnehmer. Und das ändert sich nie, weil sich die Menschen an sich auch nicht ändern. Die Geschichte belegt das ja immer wieder und in jeder Hinsicht.
Seitdem der Corona-Crash im Februar und März 2020 so rasant aufgeholt wurde, ist eine ungewöhnlich große Zahl an Anlegern neu hinzugekommen, die alle mit dem Eindruck gestartet sind, dass jeder Rücksetzer am Aktienmarkt eine todsichere Gewinnchance ist und nichts, aber auch gar nichts die ewige Hausse wird kippen können. Und dass weder die Inflation noch der Ukraine-Konflikt und die hohen Zinsen den Anstieg der Märkte stoppen konnten, dient ihnen als unwiderruflicher Beweis. Aber dabei wird eines übersehen:
Die Kurse steigen, solange mehr Volumen in Käufe als in Verkäufe geht. Ob das mit Blick auf die Rahmenbedingungen auch so passt oder nicht, hängt davon ab, ob diejenigen, die da kaufen, wissen was sie tun oder nicht. Passt das Umfeld nicht, ist schlagartig Feierabend mit der Hausse, wenn der Klientel der Ahnungslosen und Leichtsinnigen das Geld ausgeht … und sei es nur für kurze Zeit. Was dann passieren kann, wenn auch die „Milchmädchen“ angetreten sind, sprich jeder, der grundsätzlich könnte, auch dabei ist und dem Markt damit Expertise und Käufer zugleich knapp werden.
Ist das so? Und kommen die Faktoren des fehlenden Grundwissens und des Leichtsinns noch obendrauf?
Börse „lernen“? Wozu denn!
In den letzten zwei Monaten kamen alleine drei Leute aus meinen Bekanntenkreis an und verkündeten, dass sie jetzt auch am Aktienmarkt mitmischen werden. Alle drei ohne den Hauch von Basiswissen oder gar Erfahrung. Der eine sagte nur, er lasse seinen Bankberater jetzt monatlich sein Geld an der Börse verwalten … und wusste nicht mal, was genau der dann damit macht. Der zweite wollte von mir wissen, welche „Handy-App“ für Trading ich empfehlen würde (hat vorher noch nie eine Aktie gekauft), der dritte erklärte mir sogar, er werde jetzt über eine Broker-App Daytrading machen, denn er kenne da zwei, die würden da richtig viel Geld machen und davon leben.
Da sinkt einem, der wie ich jetzt seit 35 Jahren an der Börse herumhantiert, anfangs alles gelernt und gelesen hat, was man lernen und lesen konnte, ein Wirtschaftsstudium als Basis hat und trotzdem oft genug auf die Fr***e gefallen ist, der Kopf auf die Tischplatte. Vor allem eines ist heftig: Glauben Sie, dass auch nur einer der drei zukünftigen Börsen-Gurus mich gefragt hätte, wo man für Aktien-Trading gute Tutorials finden könne, welche Bücher man lesen soll, wie man am besten Paper-Trading angeht oder ähnliches? Keiner. Diese Leute wollen nichts lernen und nichts wissen, sie wollen „haben“. Und zwar Gewinn. Weil sie ernsthaft angesichts des medialen Getrommels um ein neues Rekordhoch nach dem anderen meinen, dass man dazu nichts können muss. Willkommen am Vorabend von 1929!
Wenn viele niedrige Kurse mit „billig“ verwechseln
Aber es könnte ja sein, dass das nur Zufall ist, drei Extrembeispiele, die mir halt über den Weg liefen, aber die meisten anderen klug, besonnen und mit dem nötigen Basiswissen ans Werk gehen. Könnte es. Aber der folgende Chart lässt mich vermuten, dass das nicht der Fall ist. Er zeigt, dass momentan seltsamerweise vor allem Aktien laufen, die „billig“ sind. Schauen Sie hier mal beim MDAX: Abgebildet sind diejenigen unter den 60 MDAX-Aktien, die weniger als zehn Euro kosten, Zeitraum: ein Monat. Dazu noch Delivery Hero als eine typische „Mode-Aktie“ der ersten Generation der „Ich muss nichts wissen um reich zu werden“-Spekulanten aus der Corona-Zeit, die immer dann aus dem nichts steigt, wenn diese Klientel mal wieder umfassender aktiv wird.
Bis auf thyssenkrupp und Evotec, die jetzt aber auch aufholen, sind alle diese „billig“ wirkenden Aktien in den letzten Wochen auffallend besser gelaufen als der Index selbst. Trotz der alten Börsen-Regel, dass, was billig wirkt, noch viel billiger werden kann, weil Aktien nie nur aus Versehen einen niedrigen Kurs haben. Was jeder Investor weiß. Aber wer von Tuten und Blasen keine Ahnung hat, weiß es eben nicht. Wenn ich so etwas sehe, sehe ich eine Milchmädchen-Hausse.
Meme-Aktien: Heißt es nicht, „mit Geld spielt man nicht“?
Als Meme-Aktien bezeichnet man für den Gesamtmarkt unbedeutende Aktien, die in Internet-Foren massiv gepusht und von Gruppen von Marktteilnehmern dann gezielt gekauft werden, angeblich, um es den bösen Short-Sellern, die man oft irrigerweise mit dem Banken-Establishment gleichsetzt, zu zeigen. Eine dieser 2021 auf diese Weise durch die Decke (sehen Sie sich im Chart rechts die prozentuale Veränderung an!) gezockten und dann sang- und klanglos eingebrochenen Aktien war die der Computerspiele-Kette Gamestop.
Diejenigen, die in Foren zum Kauf geraten und Kaufwellen organisiert hatten, wurden damit reich, denn sie kauften vor diesen Kaufwellen der Leichtgläubigen und stiegen aus, als deren Käufe den Level blanken Wahnsinns erreichten. Man hätte denken können, dass die, die am Ende die Dummen waren, daraus gelernt hätten. Aber im Mai und Juni 2024 ging der Irrsinn erneut los … mit dem gleichen Resultat. Wenn diejenigen, die die Ahnungslosen am Nasenring durch die Arena führen, zuletzt wieder ein ideales Umfeld für eine Runde „Abzocke“ sahen, ist das für mich ein erneuter Hinweis darauf, dass wir das „Milchmädchen-Stadium“ längst erreicht haben.
Die Gefahr an sich ist noch kein Verkaufssignal!
Zu erkennen, dass da eine Menge Leute auf dünnem Eis tanzen, während sie glauben, über das Wasser laufen zu können, heißt: Obacht, die Sache wird jetzt richtig „tricky“. Es heißt aber nicht, dass man an der Börse aktuell alleine deswegen Haus und Hof versetzen und Short gehen sollte. Das wäre in etwa genauso gewitzt wie blind sein Erspartes in Aktien zu stecken und zu glauben, rauf ist der einzige Weg für die Kurse.
Man darf nicht vergessen, dass es über zwei Jahre dauerte, bis die bis dahin auf von niemandem erahnte Größe gewachsene Blase 1929 platzte. Und vor dem Dot.Com-Crash im März 2000 ging es zwar nicht unbedingt allzu lange nach oben, dafür aber, siehe den Nasdaq 100-Chart ganz oben, extrem schnell und weit. Wer bereits Short ist, muss daher ganz genau wissen, wie man sich in einer von ihrer Größe und Dauer nicht eingrenzbare Hausse auf der Gegenseite positionieren und verhalten muss.
Aber man muss ja auch nicht glauben schaffen zu können, was so unwahrscheinlich ist, dass man es besser lassen sollte: Genau am Hoch zu verkaufen und auf Baisse zu setzen. Das klappt wenn, dann nur durch Zufall und gelingt einem von hundert. Wichtig ist nur eines: Man muss um die Gefahren wissen und immer dann, wenn immer mehr andere leichtsinnig werden, umso vorsichtiger vorgehen – das ist völlig ausreichend, um nicht unter die Räder zu kommen, die am Ende jedes Mal die Milchmädchen unter den Marktteilnehmern erwischen.
Ich wünsche Ihnen eine erfolgreiche Börsenwoche!
Ihr
Ronald Gehrt
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